Sollten wir „eigensinnig“ werden? Was Liberale von Hermann Hesse lernen können


„Lieber von einem Faschisten erschlagen werden als selber Faschist sein! Lieber von einem Kommunisten erschlagen werden als selber Kommunist sein! Wir haben den Krieg nicht vergessen. Wir wissen, wie das berauscht, wenn man Trommel und Pauke rührt.
Wir sind taub, wir werden nicht mitgerissen,
wenn ihr das Volk mit dem alten Rauschgift verführt […]“
Bereits 1933, kurz nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler,
verfasste HERMANN HESSE (1877 – 1962) diese Zeilen in seinem Gedicht
„Absage“, in dem er sich von vornherein von Faschismus und Kommunismus
distanzierte. Er, der schweigend in die Schweiz emigrierte, um sich dem
nationalsozialistischen Einfluss zu entziehen, war nicht nur ein kitschiger
Apostel anachronistischer Innerlichkeit, er gilt v. a. auch als politischer
Denker, als unbestechlicher Kopf und intellektueller Zeitkritiker. Kritiker
werfen ihm vor, dass er sich nie lautstark genug gegen den
Nationalsozialismus aussprach und stattdessen seinen Vertrag mit dem S.
Fischer-Verlag verlängerte, damit seine Werke weiter publiziert werden
konnten. In seinen Briefen aber ließ er keinen Zweifel an seiner antitotalitären
Haltung erkennen. Im Gegenteil. Für viele emigrierende
Schriftsteller galt HESSE als erste Anlaufstelle für seelische und finanzielle
Unterstützung.
Eine politische Einordnung des Schriftstellers fällt mitnichten leicht. Zum
einen gilt HESSE als ein Vertreter des unanfechtbaren Individualismus. Er gab
die linksliberale und kaiserkritische Zeitung „März“ heraus und unterstützte
auch den Sozialliberalen CONRAD HAUßMANN bei seiner politischen Arbeit, wie
aus der Briefkorrespondenz zwischen den beiden herauszulesen ist. Zum
anderen trat HESSE dezidiert antinationalistisch, pazifistisch und
kapitalismuskritisch auf. Sich selbst bezeichnete er als „nicht bürgerlich“, den
Sozialismus erkannte er als „einzig anständige Gesinnung“ und Geld war für
ihn „Gestohlenes“, Besitz erschien ihm ungerecht und unmoralisch.
So gesehen, stand HESSE vermutlich dem Anarchismus am nächsten: Er stand
zwischen den Fronten. Das Gesamtwerk des „GLASPERLENSPIELERS“ ist
gekennzeichnet durch die unnachgiebige und zum Teil selbstzerreißende
Auflehnung gegen jede Fremdbestimmung und war geprägt vom Konzept des
„Eigensinns“:
Das Eigensinnige ist die Tugend, die dem „Eigenen“ einen Sinn gibt. Der
Eigensinn ist kein triefender Egoismus, sondern die Entfaltung der eigenen
Persönlichkeit. Bevor es zu einer Veränderung auf gesamtgesellschaftlicher
Ebene kommen kann, muss der Mensch als Individuum zu sich selbst finden
und erkennen, wer er wirklich ist. Denn das steht oft im Gegensatz zu dem,
zu was die Gesellschaft ein Individuum machen will.
Und so muss auch der Liberale erkennen, wer er wirklich ist. Er muss, wie
der STEPPENWOLF, wie SIDDHARTA, ja wie HERMANN HESSE selbst, in die radikale
und selbstgewählte, selbstauferlegte Einsamkeit gehen. Der Liberale sollte
nicht der Herde folgen und auch nicht in die verbitterte Entsagung alles
Politischen flüchten. Er hält sich fern von der Mode und entsagt dem
Extremen der Ränder. Er biedert sich nicht dem Zeitgeist an. Der Liberale
findet seine Persönlichkeit in der gelebten Freiheit, abseits des
Vorausgesetzten; abseits des Bestehenden und der Tradition. Aber auch
abseits der übereilten Verwerfung.
Ein eigensinniger Liberaler ist kein Steigbügelhalter der Linken. Er ist auch
kein rechter Sittenwächter. Er ist kein Revolutionär und kein Kollektivist. Er
ist sich seines eigenen Wertes und seiner Wichtigkeit als Individuum sowie
Vertreter einer freiheitlichen Idee bewusst und versucht, den Wert des
Einzelnen über den des Kollektivs kenntlich zu machen. Das eigensinnige
Handeln ist nicht das unsolidarische Handeln. Es ist die Entfaltung und
Beflügelung freiheitlicher Ideale im demokratischen Schaffensprozess, ohne
dabei auf die Unterstützung durch andere politische Strömungen bauen zu
wollen. Der eigensinnige Liberalismus ist das bewusste Gestaltenwollen in
Unabhängigkeit vom anderen und das Durchsetzen des Eigenen.

Literatur:
HESSE, HERMANN, Absage, in: Die Gedichte, Suhrkamp, Berlin 132017, S.
778, V. 1-8.
DERS., Eigensinn macht Spaß: Individuation und Anpassung, Berlin 1986.
DERS. & HAUßMANN, CONRAD, Briefwechsel. 1907-1922, in: Abret, Helga
(Hg.) Von Poesie und Politik. Hermann Hesse. Conrad Haußmann.
Briefwechsel 1907-1922, Berlin 2011.
SCHWILK, HEIMO, Hermann Hesse. Das Leben des Glasperlenspielers,
München 2012.

Titelbild: Von Gret Widmann (†1931) – musee-suisse.com, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=364058

One thought on “Sollten wir „eigensinnig“ werden? Was Liberale von Hermann Hesse lernen können”

  1. Ich gehöre schon zu den Dinos musste
    aber erst jetzt erkennen nach jahrelanger
    künstlerischer Tätigkeit mit Leinwänden
    und Farben,das Hesse für mich das Wasser ist
    wenn ich durstig bin und das Brot für meinen Hunger.
    eine kleine Kostprobe aus dem fundus meiner Gedichte.
    Der Albtraum.
    Glücklich sein bleibt auf der Strecke
    Bettler stehen an Häuserecken,
    die Armut kann man nicht verstecken
    selbst mit einer großen Decke.
    die Politik hat es geschafft
    ganz radikal zu kürzen.
    mit Ungerechtigkeit zu würzen
    un so zu zeigen ihre Macht.

    Dieser Albtraum der muss enden,
    es kann so nicht weitergeh`n,
    die Uhren bleiben alle steh`n
    wir müssen dieses Elend drehen
    Rentner sind am Flaschen sammeln
    an der Tafel stehen Menschenschlangen,
    die um Essensreste bangen.
    So ist der Staat am vergammeln.
    Theo.
    ,

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