Der langanhaltende Konflikt zwischen den sunnitischen Ländern Katar und Saudi-Arabien könnte besonders durch die Verbrüderung des schiitischen Irans mit Katar für Verwirrung sorgen. Katar wird von den restlichen Golfstaaten diplomatisch ausgeschlossen. Die Vorwürfe sind zum einen die Beziehungen zwischen Katar und dem Iran, zum anderen die Finanzierung von Terrorismus. Eine zentrale Forderung lautet, dass Al-Jazeera abgeschafft gehöre. Ausgerechnet die Türkei stellt sich den sunnitischen Staaten entgegen und unterstützt das Emirat Katar. Um die türkische Außenpolitik zu verstehen, ist es deshalb wichtig, diese nicht mit seiner Innenpolitik gleichsetzen.

Der Arabische Frühling und der widersprüchliche innerislamische Konflikt

Der gravierendste Fehler, wenn man den Nahen Osten analysiert, ist wohl die Überschätzung des Schiiten-Sunniten Konfliktes. Ich selber habe die konfessionelle Auseinandersetzung lange Zeit als die Hauptursache für die heutige innenpolitische Instabilität vieler nahöstlicher Länder gehalten. Die Zwietracht zwischen den muslimischen Gemeinschaften geht historisch, militärisch und gesellschaftspolitisch sogar weiter als die Kurden-Frage, die Realpolitik kennt jedoch andere Prioritäten. Während Recep Tayyip Erdogan besonders daran interessiert zu sein scheint, eine theokratische Agenda im Innenland einzuführen, scheint seine Politik ganz und gar nicht diesem innerislamischen Konflikt zu folgen: Sowohl Katar als auch die Türkei sind außenpolitisch nicht zu einer sunnitischen Achse zuzuordnen, obgleich man beiden Staaten regelmäßig die Unterstützung von sunnitischen Extremisten vorwerfen kann. Während beide Staaten tatsächlich den Umsturz in Ägypten sowie Libyen durch radikale sunnitische Kräfte unterstützt haben, steht Saudi-Arabien der dortigen Ausbreitung des Arabischen Frühlings kritisch gegenüber. Der Grund für diese unklaren Verhältnisse ist die Beziehung zwischen den Muslimbrüdern und den saudischen Wahhabiten: Diese stehen trotz möglicher ideologischer Nähe in Konkurrenz zueinander. In dem Fall würde Saudi-Arabien seiner eigenen Politik widersprechen, wenn es alleiniges Interesse hätte, den radikalen sunnitischen Islam zu verbreiten und zu stärken. Denn der salafistische Islam, der in Europa Einfluss gewinnt, wird stark von den Muslimbrüdern unterstützt, von den Saudis aber mit Skepsis gesehen. Der Iran scheint an der Thematik nicht besonders interessiert zu sein, obwohl die Existenz der ägyptischen Schiiten durch die Muslimbrüder bedroht ist. Vielmehr bereitet der westliche Einfluss dem Regime aus Teheran Sorgen, wogegen die Muslimbrüder sich als geeignetes Gegengewicht erweisen. Diese Sorge wurde nämlich ausgerechnet weniger durch Mursi, der als Anhänger der Muslimbrüder demokratisch gewählt wurde, ausgelöst. Dieser suchte eine Annäherung an den Iran und hinterfragte den Friedensvertrag mit Israel. Ähnlich wie das katholische Frankreich im 30 Jährigen Krieg die protestantische Seite wählte. Der säkulare Nachfolger As-Sissi, der den Anhänger der Muslimbrüderschaft putschte und die Partei der Muslimbruderschaft verbot, wird vom Iran als größere Gefahr gesehen. Der Iran bevorzugt also in Ägypten die von Katar unterstützten radikalen Sunniten, während Saudi-Arabien auf pro-westliche und säkulare Kräfte in Ägypten setzt.

Hassan Nasrallah, Generalsekreter der schiitisch-libanesischen Terrororganisation Hezbollah bekannte sich zum arabischen Frühling und unterstützte indirekt die Muslimbrüder in Libyen und Ägypten. Sein Zuspruch hatte eine Ausnahme: Al-Assad, syrischer Präsident und engster Verbündeter des schiitischen Irans. Das alawitische Staatsoberhaupt und seine Armee werden im Konflikt von der Hezbollah gegen die sunnitischen Rebellen und dem IS unterstützt. So widersprüchlich Nasrallahs Position wirkt, sie passt in die iranische Außenpolitik, die sich als Bestandteil einer Art schiitischen Dreiecks aus Hezbollah und Assad-Syrien sieht. Es kommt also vor, dass die Hezbollah die Muslimbrüder in Syrien militärisch bekämpft, währen sie die Muslimbrüder in Ägypten unterstützt – alles mit einem Okay vom Iran.

Ahmedinedschad, Assad Nasrallah gemeinsam auf einem schiitischen Propagandabild 

Die sunnitische Terrororganisation Hamas im Gazastreifen – ursprünglich ein Ableger der Muslimbrüder, um Israel intensiver zu bekämpfen – scheint zwischen dem Iran, Katar und der Türkei zu schwanken. Trotz religiöser Divergenzen ist sie der schiitisch-libanesischen Hezbollah, die auf der Seite des alawitischen Assads steht und vom Iran unterstützt wird, eher neutral bis fast freundlich gesinnt. Die Hamas selbst bekam finanzielle wie technische Unterstützung aus dem Iran.

Das bedeutet im Umkehrschluss, dass die türkische Unterstützung für die Muslimbrüder auch im Interesse der schiitischen Seite ist. Im Gegensatz zu Erdogans Syrienpolitik, spielt der türkische Staatspräsident in Nordafrika mit den Muslimbrüdern der schiitischen Seite in die Hände. Zusammengefasst: Weder die saudische noch die türkische Außenpolitik ist pro-sunnitisch. Beide folgen einer Art pragmatischen „raison d’État„.

Ein gängiger Vorwurf ist, dass Saudi-Arabien den IS unterstütze. Das soll in diesem Text weder belegt noch widerlegt werden. Tatsache ist jedoch, dass der IS dem saudischen Königshaus niemals treu sein kann, da zwischen den Monarchen und den religiösen Führern in Saudi-Arabien ebenso eine Art Konkurrenz herrscht. Beide Parteien sind in keiner harmonischen Fusion, die den Staat bildet. Das Königshaus, welches die Religion allein als Machtinstrument genießt, würde sich einer fundamentalistisch-salafistischen Gruppe wie dem IS, die die Monarchie durch ein reines Kalifat ersetzen würde, dementsprechend nicht unterordnen. Als Verbündete muss Saudi-Arabien daher auf den Westen oder auf die Golfstaaten zurückgreifen, mit einer Ausnahme – Katar. Man stellt erneut fest, dass Saudi-Arabien, die selbsterklärte Schutzmacht der Sunniten zu erst auf das nationale Interesse achtet und dafür bereit ist, die Religion zu beschränken. Der Iran könnte aber ein großes Interesse daran haben auch sunnitische Extremisten in Saudi-Arabien gegen das Königshaus zu unterstützen.

Schlüsselfaktor Iran

Saudi-Arabien und die Türkei haben beachtlich gegensätzliche Interessen, und müssen somit um Einfluss in Syrien konkurrieren. Dieser Konflikt bekommt in der dauerhaft anhaltenden Katar-Krise Züge eines Kalten Krieges. Die Türkei schaltet sich als Schutzmacht für Katar ein, um den saudischen Druck und damit den Einfluss auf die Golfstaaten zu schwächen. Gleichzeitig nimmt der Iran Katar öffentlich in Schutz und bleibt sowohl für die Türkei als auch Katar Handelspartner. Aber auch während des Arabischen Frühlings in Nordafrika spielte die Türkei eine Rolle. Wie oben erwähnt, lehnte Saudi-Arabien die Revolutionen in Libyen und Ägypten ab. Die Türkei hingegen unterstützte die Umwälzung. Hinzu kommt, dass Erdogan die Hamas, welche ebenso vom Iran unterstützt wird, als „Freiheitskämpfer“ bezeichnete. Saudi-Arabien hat genauso wie zur Hezbollah, den Muslimbrüdern und ähnlichen Organisationen eine skeptische Haltung. Unter anderem auch deswegen, weil diese dem Iran nahe stehen. Die Iran-Politik ist wohl das entscheidende Kriterium für die gegensätzlichen außenpolitischen Doktrinen: Die Türkei schafft den Spagat zwischen ökonomischen Beziehungen zum Iran, inklusive politischer Unterstützung, und gleichzeitiger Unterstützung sunnitischer (teils extremistischer) Milizen, die in Syrien gegen Assad, den engsten Verbündeten des Irans kämpfen. Die gemeinsamen Interessen zwischen dem Iran und der Türkei werden in der jetzigen Katar-Krise deutlich: Erdogan entfernt sich von den restlichen sunnitischen Ländern, insbesondere Saudi-Arabien und nähert sich dem einzigen Golfstaat an, welcher die Anti-Iran-Haltung nicht mitträgt – erneut Katar. Für Saudi-Arabien bleibt der Iran auch in Zukunft der religiöse wie politische Hauptfeind und Katar könnte zu einem Partner des Irans werden, vergleichbar mit Assad.

Ein Ankara-Teheran-Doha-Dreieck?

Hier wird ein unersichtliches Netz von blockfreien Staaten immer deutlicher. Die Türkei führt eine widersprüchliche Politik indem sie sunnitische Extremisten unterstützt um Assad zu bekämpfen, gleichzeitig aber versucht, gute Beziehungen zum Iran zu führen. Katar, welches derzeit Rückendeckung vom türkischen Staatspräsidenten erfährt, ist in diesem Punkt noch erfolgreicher und wird wahrscheinlich wegen seiner Annäherung zum Iran von den restlichen arabischen Staaten ausgegrenzt. Trotz der Sanktionen gegen den Iran, die 2016 aufgehoben wurden, bekam die Türkei in einem recht ungewöhnlichen Deal Gas geliefert. Da der Iran vom internationalen Finanzsystem abgeschnitten wurde, bezahlte die Türkei mit Gold. Die iranische Außenpolitik ist nicht weniger widersprüchlich indem sie den radikal-sunnitischen Aufbruch in Nordafrika toleriert und die Türkei, einen eigentlich geostrategischen Gegner, eben mit Gas aber auch Erdöl versorgt. Gleichzeitig bekämpft das schiitische Regime die von der Türkei unterstützten Rebellen und rüstet die Hezbollah auf. Die schiitische Kriegspartei wird für den Westen ein besonderes Risiko sein, wenn sie sich wieder im Kampf gegen Israel engagiert. Sowohl die USA als auch Europa haben zugelassen, dass Terror-Organisationen die gegen den IS kämfen, selbst davon profitieren. Die Hezbollah ist stärker denn je, sodass sie sogar Netzwerke in Südamerika pflegt und wie die internationalen Beziehungen zeigen, werden selbst sunnitische Führer das erdulden.

Erdogans Loslösung der Außenpolitik von der Innenpolitik lässt einen weiteren Widerspruch zu: Obwohl er auf Konfrontationskurs mit dem Westen geht und eine autokratische Politik im Innenland führt, nimmt er die Rolle des Vermittlers zwischen dem Iran und der sunnitischen Welt ein. Das könnte die Türkei außenpolitisch stärken und ihren geopolitischen Spielraum vergrößern, der Spielraum wird jedoch niemals so groß sein können, dass es den Interessen des Irans stört – mit den zurückgenommenen Sanktionen könnte es genau anders herum aussehen,  wodurch der Iran zum „kleinen Partner“ geschrumpft wäre.

Eine arabische Hallstein-Doktrin gegen den Iran findet zwar nicht statt. Dennoch könnte eine unbeabsichtigte Achse aus Katar, dem Iran und der Türkei, mit engen Beziehungen zu Russland, trotz konträrer Haltungen zu Syrien, den saudischen sowie westlichen Einfluss im Nahen Osten schwächen, weshalb Saudi-Arabien sich immer weiter von sunnitischen Konfliktparteien distanzieren wird. Freundschaften oder ideologische Schulterschlüsse werden eine geringere Rolle spielen. Es entwickelt sich eine „nahöstliche Realpolitik“ – lose und pragmatische Bündnisse meist im Kampf gegen Saudi-Arabien, Israel oder die USA, aber viel wichtiger noch gegen die Freiheit und Demokratie.

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