Verfassungswidrige Gewaltenverschiebung: Vom Niedergang staatsrechtlicher Denkkategorien

Seit nunmehr sieben Monaten wird das öffentliche Leben von einem Verordnungssystem reguliert, welches den intensivsten und längsten kollektiven Grundrechtseingriff in der Geschichte der Bundesrepublik ausgelöst hat. Die Kehrseite: Die Handhabung der Corona-Pandemie im Verordnungswege führt zu einer verfassungsrechtlich nicht vorgesehenen Gewaltenverschiebung zulasten der Legislative und zugunsten der Exekutive. Die Kritik an diesem Zustand wird seit geraumer Zeit nicht nur politisch diskutiert, sondern auch die Stimmen aus der Rechtswissenschaft werden lauter. (1) Dass die Bundesregierung selbst dieses zentrale grundgesetzliche Erfordernis kaum zur Kenntnis nimmt, spricht für sich. Es ist höchste Zeit die parlamentarische Demokratie zu revitalisieren und sich wieder in verfassungsrechtlich gewollten Bahnen zu bewegen.

Parlamentarische Grundentscheidungen als verfassungsrechtlich geforderte Praxis

Die vom Bundesverfassungsgericht in den 1970er-Jahren entwickelte Wesentlichkeitslehre (2) formuliert den Anspruch, dass wesentliche – also vor allem grundrechtssensible Sachbereiche – einem Parlamentsvorbehalt unterliegen, d. h. vom Bundestag bearbeitet werden müssen. Es handelt sich hierbei aber nicht nur um eine formalistische rechtsdogmatische Figur aus Karlsruhe, sondern um einen elementaren Ausfluss des Demokratie- (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG) und Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3, Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG). Angesichts der umfangreichen Eingriffe in eine Vielzahl von Grundrechten – man denke dabei vor allem an die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG), die Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 2 GG) und die Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) – steht es außer Zweifel, dass die aktuell im Verordnungswege erfolgten Grundrechtseingriffe als wesentlich zu bezeichnen sind.

In den ersten Wochen der Pandemiebekämpfung mag man der Gubernative aus Kulanzgründen noch zugute kommen lassen, dass vieles unbekannt war und eine gewisse Adaptabilität der Maßnahmen geboten war. Mit zunehmendem Informationsgewinn verdichtet sich allerdings die Kenntnislage, in Anbetracht der grundrechtlich höchstrelevanten Eingriffe gebietet sich in Übereinstimmung mit der Wesentlichkeitslehre schon längst die Schaffung einer coronatauglichen Ermächtigungsgrundlage.

Rechtsstaatlich untaugliche Ermächtigungsgrundlage

Das umfangreiche Corona-Regelungsgeflecht stützt sich seinerseits ausschließlich auf die Verordnungsermächtigung des § 32 S. 1 IfSG. Diese erfüllt jedoch bei Lichte betrachtet die in Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG statuierten Voraussetzungen an solche Ermächtigungen nur schwerlich, ist jedenfalls aus verfassungsrechtlicher Perspektive mindestens defizitär, wenn nicht sogar mehr als prekär. Um für Rechtsklarheit beim Bürger zu sorgen, verlangt das Bestimmtheitsgebot vom gesetzgeberischen Normprogramm, dirigierende und limitierende Handlungsmaßstäbe vorzugeben. (3) Nach dem Maßstab des Grundgesetzes müssen Verordnungsermächtigungen damit Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung festlegen. Und jetzt der Knackpunkt: Diese Anforderungen richten sich nach der Intensität der Grundrechtseingriffe,(4) sind hier zweifelsohne also besonders hoch. Zweck und Inhalt solcher Verordnungen auf Grundlage des Infektionsschutzgesetzes können noch vielleicht näherungsweise erfasst werden – allerdings nur in Zusammenschau mit den Einzelmaßnahmen der §§ 28 bis 31 IfSG. Das Ausmaß möglicher Verordnungen ist jedoch nicht mehr klar konturiert, es handelt sich ja letztlich um eine Generalklausel.(5)

Die aktuelle Praxis widerspricht zudem dem Telos der §§ 28, 32 IfSG, denn hier sollte gerade keine über Monate gültige „Parallelrechtsordnung“(6) geschaffen werden, sondern lokal und selektiv auf einzelne Störer reagiert werden – klassisches Seuchenrecht eben. Für Corona ist das Infektionsschutzgesetz daher eigentlich eher ungeeignet. Die unvollständige Abwägungsleistung des Gesetzgebers – genannt ist in § 32 S. 3 IfSG nicht einmal die Berufsfreiheit – vor seiner Verabschiedung wird sachbereichsspezifisch durch die Neuartigkeit der aktuellen Situation flankiert.

Die verfassungsrechtlichen Zweifel an der gegenwärtigen Praxis erreichen allerdings über die rechtswissenschaftliche Literatur und die Politik auch die Gerichte: Selbst der Bayerische Verwaltungsgerichtshof äußerte nun Zweifel an der Vereinbarkeit dieser Verordnungspraxis mit dem Parlamentsvorbehalt und den Delegationsvoraussetzungen des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG. (7)

Die Rechtserzeugung erfolgt hier auch normalerweise arbeitsteilig: Auf Grundlage eines gesetzlichen Programms werden Verordnungen erlassen, die diese Regelungsprogramme umsetzen und konkretisieren. Mit einer generalklauselartig formulierten Ermächtigung verlagern sich aber die wesentlichen, grundrechtsrelevanten Aspekte auf das Medium der Verordnung und dies stellt eine Systemwidrigkeit dar. Die Delegationsschranken des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG reagieren dabei gerade auf die gängige Praxis in der Weimarer Republik, denn diese begünstigte die parlamentarische Selbstentmächtigung. (8) Für die Schaffung einer ergänzenden, rechtsstaatlichen Bestimmtheitskriterien genügenden Verordnungsermächtigung liegt das Material übrigens schon längst bereit. In den vergangenen Monaten bildete sich ein relativ konstanter Maßnahmenkatalog (etwa Kontaktbeschränkungen oder Abstandsregelungen) (9) heraus, der sich unkompliziert in eine gesetzliche Gussform geben ließe.

Elementare Prinzipien der parlamentarischen Demokratie im Zwielicht

Nun mag man einwenden, die Landesregierungen und die Bundesregierung seien effektiv selbst demokratisch legitimiert. Das ist natürlich auch korrekt, nur geht es eben nicht nur darum, wer die Entscheidungen trifft, sondern auch wie sie getroffen werden. Es geht nicht nur um die Achtung verfassungsrechtlicher Formalistik, sondern um das Herz unserer Demokratie. Nachdem der für November geplante Maßnahmenkatalog an die Öffentlichkeit trat, wurde bekannt, dass Mitglieder des Bundestages nicht einmal im Vorfeld darüber informiert worden sind, sondern das Ausmaß der Regelungen nur aus den Medien erfuhren. Wir sprechen hier also nicht nur über fehlende Verfahrensbeteiligung des Bundestages, sondern sogar über seine Entmündigung – er wird als „Störfaktor“ wahrgenommen und förmlich „zur Seite geschoben“.

Für die Verabschiedung der gebotenen gesetzlichen Grundlage ist die Abwägung und der Ausgleich konfligierender Interessen erforderlich. Dabei ist ein repräsentativ-pluralistisch zusammengesetztes Gremium wie ein Parlament gerade dafür geeignet, eine solche gesetzliche Grundentscheidung zu treffen. Der Problemhorizont wird so enorm erweitert, denn hier werden Alternativen artikuliert und verschiedene Perspektiven auf die Pandemie treffen aufeinander. Die Einbindung des Bundestages als Prozeduralisierung des zentralen rechtsstaatlichen Prinzips der Verhältnismäßigkeit kommt gleichsam dem Grundrechtsschutz zugute. Das Verfahren erfolgt zudem öffentlich und ermöglicht damit Transparenz und zivilgesellschaftliche Kontrolle.

Die Beratung und Beschließung von Maßnahmenpaketen in einer gubernativen „Kungelrunde“ gleicht eher einem „Corona-Areopag“ und erinnert an Mose, der mit den zehn Geboten vom Berg Sinai hinabstieg. Sie hat mit Pluralismus, Transparenz und Kontrolle gerade wenig zu tun und verengt den Berücksichtigungsradius. Begünstigt wird die mangelhafte Abwägungsleistung auch durch die politische Verabsolutierung von Schutzgütern wie „Leben und Gesundheit“,(10) die dem verfassungsrechtlich prekären Ausnahmezustand moralische Legitimation verleihen sollen.

Gefahren politischer und zivilgesellschaftlicher Nonchalance

Die unbekümmerte Nichtbeachtung der Wesentlichkeitslehre und der verfassungsrechtlich fragwürdige dauerhafte Zugriff auf die Generalklausel des § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG rufen mindestens die juristische (und natürlich auch politische!) Integrität auf den Plan, wenn sie nicht sogar – ergänzend zu Oliver Lepsius‘ Befund(11) – für einen Niedergang staatsrechtlicher Denkkategorien in der aktuellen Situation stehen. Die Überwindung dieses Zustandes liegt in der Schaffung einer rechtsstaatlich tauglichen Ermächtigungsgrundlage im parlamentarischen Verfahren. Dies ist angesichts der Intensität und vor allem der Dauer der intensiven Grundrechtseingriffe mittlerweile mehr als geboten.

Akzeptieren wir das gegenwärtige Vorgehen nonchalant als zulässige Staatspraxis, liefe das auf einen ungeschriebenen verfassungsrechtlichen Notstandsvorbehalt hinaus, mit dem das Grundgesetz im schlimmsten Falle nach Gutdünken ausgehebelt werden könnte. Es steht außer Zweifel, dass auf den aktuellen Infektionsverlauf schnell reagiert werden muss, aber diese Reaktionen haben immer verhältnismäßig zu erfolgen. Hier spielt die eine pluralistische Austarierung fordernde rechtliche Zulässigkeit eine größere Rolle als die politisch-moralische Zweckmäßigkeit.

Das nur wenige Tage dauernde Verfahren zur Verabschiedung des „Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Notlage von nationaler Tragweite“ Ende März stellt eindrücklich unter Beweis, dass ein Parlament keineswegs ein schwerfälliges Organ ist, sondern auch in der gebotenen Geschwindigkeit handeln kann. Die Debatte über Corona- Maßnahmen gehört in den Bundestag, nicht in die Talkshows. Höchste Zeit also, trotz Corona-Situation in eine verfassungsgemäße Situation zurückzukehren.

Quellen:

(1) Auswahl: Sehr früh bereits Möllers, Verfassungsblog v. 26.03.2020, https://verfassungsblog.de/parlamentarische-selbstentmaechtigung-im-zeichen-des-virus/; Pautsch/Haug, Parlamentsvorbehalt und Corona-Verordnungen – ein Widerspruch, in: NJ 2020, S. 281 ff.; Präsident des Verfassungsgerichtshofes Rheinland-Pfalz Brocker, https://www.swr.de/swraktuell/baden- wuerttemberg/mannheim/interview-mit-swr-rechtsexpertem-christoph-kehlbach-zu-corona-verordnungen- 100.html; Lepsius, Grundrechtsschutz in der Corona-Pandemie, in: Recht und Politik 2020, S. 258 ff.; Volkmann, Heraus aus dem Verordnungsregime, in: NJW 2020, S. 3153 ff.
(2) So BVerfGE 40, 237 (250); 49, 89 (125); 58, 257 (274); 68, 1 (86); 83, 130 (142, 151 f.); 91, 148 (162 f.); 101, 1 (34); 136, 69 (114 ff.).
(3) BVerfGE 110, 33 (106); 128, 282 (317 f.).
(4) BVerfGE 93, 213 (238); 102, 254 (337); 131, 88 (123); 133, 277 (336 f.); 145, 20 (Rn. 125).
(5) Zur Tragfähigkeit am Beispiel der Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen sowie Abstandsregelungen Volkmann, Heraus aus dem Verordnungsregime, in: NJW 2020, S. 3155 f.; kritisch allgemein auch Papier, Freiheitsrechte in Zeiten der Pandemie, in: DRiZ 2020, S. 183 und Pautsch/Haug, Parlamentsvorbehalt und Corona-Verordnungen – ein Widerspruch, in: NJ 2020, S. 282 f.
(6) Lepsius, Grundrechtsschutz in der Corona-Pandemie, in: Recht und Politik 2020, S. 265; inhaltlich ähnlich Gärditz/Abdulsalam, Rechtsverordnungen als Instrument der Pandemie-Bekämpfung, in: GSZ 2020, S. 112.
(7) BayVGH v. 29.10.2020, 20 NE 20.2360.
(8) Diese historische Dimension bestätigend auch exemplarisch Brenner, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 80 GG Rn. 4 f.; Remmert, in: Maunz/Dürig, Art. 80 GG Rn. 34.
(9) So auch Volkmann, Heraus aus dem Verordnungsregime, in: NJW 2020, S. 3160.
(10) Zur Kritik solcher Globalziele schon Lepsius, Vom Niedergang grundrechtlicher Denkkategorien in der Corona- Pandemie, Verfassungsblog v. 06.04.2020, https://verfassungsblog.de/vom-niedergang-grundrechtlicher- denkkategorien-in-der-corona-pandemie/ .
(11) s. o.

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