Zwischen Brutalität und Fortschritt — Ein Blick auf die deutsche Kolonie Ostafrika

Es ist der 6. Oktober 1889, drei Männer erklimmen den Berg, dessen trockene und eisige Spitze mit Schnee überzogen ist. Es ist ihr dritter Versuch. Die Spitze des Bergmassivs in 5895m Höhe, tauft Hans Meyer in „Kaiser-Wilhelm-Spitze“, Sie markiert zu dieser Zeit den höchsten Punkt im Deutschen Reich. Der Kilimandscharo liegt in Deutsch-Ostafrika, im Nordosten des heutigen Tansania und ist das größte Bergmassiv Afrikas. Teil dieses Massivs ist der Kibo, der höchste Berg des Kontinents. Mythen und Erzählungen von einem schneebedeckten Berg im heißen Afrika datieren zurück bis 100 n. Chr., zu den Aufzeichnungen des griechischen Universalgelehrten Claudius Ptolemäus. Hans Meyer ist Geograph, Abenteurer und Verleger. Zusammen mit dem afrikanischen Führer Muini Amani und dem österreichischen Alpinisten Ludwig Purtscheller, gelingt ihnen erstmals der strapaziöse Aufstieg bis zur Gipfelspitze, ganz ohne Sauerstoff und jegliche moderne Ausrüstung. Geschichten wie diese, die dem Forschungsdrang und der Abenteuerlust geschuldet sind, bilden nur einen Teil der europäischen Kolonialgeschichte. Der sogenannte „Scramble for Africa“ (1880-1914) mündete 1884 in der Berliner Kongokonferenz. Auf Einladung des deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck folgten Vertreter aus den USA, Großbritannien, Frankreich, Belgien, Niederlande, Spanien, Portugal, Italien, Russland, Dänemark, Österreich-Ungarn, dem Osmanischen Reich und der Personalunion Schweden-Norwegen. Um Konflikte zu vermeiden und eigene Interessen zu verhandeln, sollte das Gebiet Afrikas unter den Staaten, ihren Ambitionen entsprechend aufgeteilt werden. Zudem einigten sich die 14 Signatarmächte im Rahmen der Kongoakte auf internationale Bestimmungen, wie etwa das einheitliche internationale Verbot der Sklaverei, wie es schon seit 1806/7 in ähnlicher Form in Großbritannien galt („Slave Trade Act“). Die Verteilung erfolgte jedoch unter Ausschluss der afrikanischen Stämme und orientierte sich nicht nach kulturellen Aspekten oder lokalen Machthabern, sondern richtete sich lediglich nach
geographischen und strategischen Gesichtspunkten. Bismarck selbst, der sich von kolonialem Prestige wenig versprach, hegte keine territorialen Ambitionen in Übersee, denn er fürchtete nutzlosen Konflikt und explodierende Kosten bei der Erschließung und Behauptung der Kolonien, wollte den deutschen Markt jedoch für afrikanischen Rohstoffe öffnen und sich Handelsfreiheiten auf dem afrikanischen Kontinent sichern. Letztlich bekam das Deutsche Reich in Afrika die Gebiete „Togoland“, „Kamerun“
„Lüderitzland“, bzw. „Deutsch-Südwestafrika“ (Namibia) und „Deutsch-Ostafrika“ (Tansania). Auch wenn das Deutsche Reich durch die Kolonien an diverse Rohstoffe gelangte, so war der Erhalt der Kolonien wie erwartet kostspielig und der erhoffte Absatzmarkt blieb aus. Als wertvollste Deutsche Kolonie in Afrika galt Deutsch-Ostafrika. Der Rohstoffabbau, das seltene Elfenbein, sowie die fruchtbaren Plantagen brachten diverse neuartige und begehrte Güter auf den europäischen Markt. Neben tropischen Früchten vor allem Baumwolle und Sisal. Allerdings waren die Einfuhren zur Erschließung und dem Ausbau der lokalen Infrastruktur beinahe doppelt so hoch wie die Exporte, womit sich Bismarcks Befürchtungen letztlich bestätigen sollten. Seit Beginn des 16. Jahrhunderts begannen vor allem wohlhabende Privatiers und Firmen wie die britische East India Company mit dem Erwerb von Überseegebieten für Handel und neue Waren. Carl Peters, Sohn eines deutschen Pastors ist Gründer der privaten Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft (DOAG). Bereits 1884 unternimmt er Expeditionen ins heutige Tansania, auf denen er durch Schwindel oder den Einsatz von Gewalt in den Besitz breiter Gebiete gelangte, die mit dem Scheitern der DOAG-Verwaltung, 1890 auch formal in den Besitz des Reichs gelangen. Aufgrund seiner Kenntnisse ernannte ihn die Kolonialverwaltung 1891 zum Reichskommissar im Kilimandscharogebiet, aber nachdem die Regierung auf Peters menschenverachtenden und brutalen Führungsstil aufmerksam wurde, versetze man diesen 1892 zurück nach Berlin, wo er nach Abschluss der Ermittlungen des kaiserlichen Disziplinargerichts offiziell aus allen Funktionen unehrenhaft entlassen wurde. Die ehemalige Kolonie Deutsch-Ostafrika hat eine Gesamtfläche von c.a 995.000 km² die sich neben Tansania auch über Teile von Mosambik, Burundi und Ruanda erstreckt. Während in Togo nie mehr als 350 Deutsche lebten, kam man in Ostafrika auf etwas über 5000, gegenüber einer Bevölkerung von 7,75 Millionen Einwohnern und 120 verschiedenen Stämmen.
Damit war Ostafrika die bevölkerungsreichste und flächenmäßig größte deutsche Kolonie. Die Verhältnisse zwischen einheimischer Bevölkerung und deutschen Siedlern gestaltete sich als ambivalent. Zum einen fürchtete man die zunehmende „Verkafferung“; Gemeint ist ein sozialer Distanzverlust und eine zu große Verschmelzung der Kulturen und Ethnien. So wurde in Deutsch-Südwestafrika die Schließung von „Mischehen“ 1905 verboten und bestehende Ehen annulliert. Beinahe paradox erscheint in diesem Kontext der Umgang der kolonialen Administration mit den lokalen Kulturen. Die breite Verflechtung der örtlichen Bräuche und Lebensart in die Verwaltung, sollten die Bevölkerung von der neuen Herrschaft überzeugen und diese weniger wie einen Fremdkörper wirken lassen und positive Absichten vermitteln. Als Paradebeispiel dieser Praxis gilt der Gouverneur von Samoa, Wilhelm Solf, der seinen Kindern für das Land typische Namen gab und einheimische Rituale und Begriffe aktiv in Politik und Sitzungen integrierte. Auch Missionare bedienten sich dieser Strategie, indem Sie über eine »Afrikanisierung« des Christentums, die Religion in den Alltag zu integrieren versuchten. Tropenkrankheiten sorgen unter den Deutschen für eine hohe Sterblichkeitsrate, zudem war das Gebiet nur schwer zu erschließen. Im Jahre 1902 gründete man in Deutsch-Ostafrika das Biologisch-Landwirtschaftliche Institut Amani, seinerzeit das fortschrittlichste Institut in Afrika, in dem u.a. der Mediziner Robert Koch an der Schlafkrankheit forschte. Auch galt dem Institut die Erforschung neuer Anbaumethoden und Wegen der effizienten Erschließung des Landesinneren.
Bei dieser kam es vermehrt zu Konflikten, wie mit dem Stamm der Hehe im Jahr 1905, unter dem Herrscher Chief Mkwawa, einem erbitterten Widerstandskämpfer und späteren Volkshelden. Mkwawa der durch die Anwesenheit der Deutschen Kolonialmacht um den lukrativen Sklavenhandel fürchtete, brachte den deutschen Handelskarawanen durch bewaffnete Überfälle immer wieder erhebliche finanzielle Verluste bei. Darauf entbrannte ein vierjähriger Kampf über die Vorherrschaft in Zentral-Tanganjika, bei dem ein von Emil von Zelewski geführtes Schutztruppen-Batallion bei Lugalo in einem Hinterhalt vernichtend durch Mkwawa geschlagen wurde — eine der verheerendsten Niederlagen der deutschen Kolonialgeschichte. Mkwawa, über Jahre erfolgreich auf der Flucht, starb durch Suizid. Die wichtigste und zahlenmäßig größte Streitkraft der deutschen Schutztruppe waren Askari, freie Soldaten, die meist aus anderen afrikanischen Regionen angeheuert wurden. Sie genossen sehr gute Bezahlung, waren geachtet und genossen einige Aufstiegsmöglichkeiten. Wenn auch manche nur des Geldes wegen Treue bewiesen, so fühlten sich viele von ihnen Deutschland nach langer Kameradschaft weiter verbunden. Auch wurden den Askari nach ihrem militärischen Dienst durch den Deutschen Staat weiterhin Pensionen gezahlt, u.a. auf Drängen des ehemaligen Generals Paul von Lettow-Vorbeck, dessen unkonventionelle Guerilla-Taktik im Ersten Weltkrieg in Ostafrika war bis zur offiziellen deutschen Kapitulation ungeschlagen. Die Pensionen wurden bis zum Ableben der letzen Askari noch durch die BRD gezahlt. Das Land selbst ist zu weiten Teilen fruchtbar und eignete sich daher zu vielseitigem Anbau. Nur war die Zahl Siedler nicht ausreichend, um die Plantagen alleine zu bewirtschaften, weshalb die Kolonialverwaltung über die Einführung einer verpflichtenden Steuer die Lohnarbeit etablierte. Hardliner forderten notfalls einen gewaltsamen Arbeitszwang, diesen lehnte die Politik jedoch konsequent ab. Populärer war die Beschäftigung von Vertragsarbeitern aus dem asiatischen
Raum, auch „Kuli“ genannt. Diese waren Arbeiter für geringen Lohn, 1000 alleine in Ostafrika. Sklaverei gab es trotz der europäischen Abolitionismusbemühungen. C.a. 400.000 Sklaven waren weiterhin im privaten Besitz afrikanischer und arabischer Eliten und wurden dort geduldet. Bei der Auflehnung afrikanischer Arbeiter griff man weiterhin zur Prügelstrafe, die seit der Reichsgründung längst verboten war. Sie galt bei allen Kolonialmächten als probates Mittel zur Durchsetzung der Machtverhältnisse, aber erzürnte die gescholtene Bevölkerung zunehmend. In Deutsch-Ostafrika eskalierte diese Praxis im Maji-Maji Aufstand im Südosten der Kolonie. Bestärkt durch den Glauben an ein Wundermittel des Mediums Kinjikitile Ngwale, welches Sie vor den Kugeln der Deutschen schützen sollte, griffen am 30. August 1905, 15.000 Krieger einen deutschen Militärposten an. Die Soldaten waren zahlenmäßig enorm unterlegen, aber das neuartige wassergekühlte Maschinengewehr MG 08 wurde den Angreifern zum Verhängnis. Doch die vermehrten Aufstände sorgten für Aufruhr im Berliner Reichstag, die Kolonialpolitik stand am Scheideweg. Kolonial-Staatssekretär Bernhard Dernburg forderte „Erhaltungsmittel“ statt Repression — Von 1905 an, beschloss der Reichstag weitere umfassende Reformen zur Umstrukturierung der Kolonien. Sie markierten den Anbruch der „Neuen Kolonialpolitik“. Fortan sollten die Arbeiter sich an der Produktion beteiligen können und stärker von ihr profitieren, der Umgang mit den Arbeitern sowie ihre Bezahlung wurde zusätzlich verbessert. Während einige wie Hauptmann Rudolf Ganßer sich schon länger für die Belange der indigenen
Bevölkerung einsetzten, gab nun auch der Staat größere Entwicklungsprojekte in Auftrag. Kliniken wurden errichtet um Deutschen und Einheimischen bessere medizinische Versorgung zu bieten und der großflächige Brunnenbau brachte gesundes Trinkwasser in die Siedlungen. Der womöglich größte Erfolg gelang in den Schulen: Deutsch-Ostafrika war zu dem Zeitpunkt ein kulturell sehr heterogenes Land mit über 100 verschiedenen, untereinander verfeindeten Stämmen, ohne einheitliches Sprachsystem. Durch die grammatikalische Aufarbeitung der Sprache lehrten die Deutschen fortan „Kisuaheli“, heute die am weitesten verbreitete Sprache im ostafrikanischen Raum. Über die vereinheitlichte Sprache konnten sich die Stämme besser verständigen, sie erhielten eine gemeinsame Identität, der Weg zur späteren Nation war damit geebnet. Zu Unstimmigkeiten bei der Bildungspolitik kam es zwischen Regierungs- und Missionsschulen, letztere sahen in der mehrheitlich vertretenen Religionsneutralität ein Hindernis ihres christlichen Missionsanspruchs, während die lokale Regierung Muslime sogar förderte und diese bevorzugt in unteren Verwaltungsämtern einsetzte. Der Anteil der Muslime in Deutsch-Ostafrika betrug etwa 4-5% der Gesamtbevölkerung. Tatsächlich entspannte die Neue Kolonialpolitik die gesellschaftliche Situation in der Kolonie erheblich. Ab 1905 kam es zu keinen größeren Aufständen mehr und die ökonomische Lage besserte sich rapide. So verzehnfachte sich der Baumwollexport aus Deutsch-Ostafrika und über einen Zeitraum von 7 Jahren steigerte sich der gesamte Handel zwischen Deutschland und seinen Kolonien von 72 Millionen Mark (1906) auf ganze 264 Millionen Mark (1913). Dernburg formulierte seinen Plan bereits 1906 wie folgt: „Das Ziel müssen mit dem Vaterland eng verbundene, administrativ unabhängige, wirtschaftlich selbstständige Kolonien sein“. Bis zum Ausbruch des Krieges waren bereits viele der Deutschen Kolonien nicht mehr länger auf die finanzielle Unterstützung des Reiches angewiesen. Die zunehmende Liberalisierung der Kolonialpolitik brachte tatsächlich nachhaltige Vorteile, dennoch hat der koloniale Imperialismus der Großmächte immer unter dem Schatten einer rassistischen Weltanschauung zu stehen. Dennoch hat man zu differenzieren: Die koloniale Politik zielte nicht auf die Vernichtung einer Ethnie ab, sondern stand im Fokus des europäischen Wettstreits nach Macht, Ansehen, Ressourcen und der Vergrößerung der wirtschaftlichen Potenz. Sie ist daher – wenn auch durch die selbe falsche Prämisse legitimiert worden -, nicht vergleichbar mit der Vernichtungspolitik des Dritten Reichs, die auf die Beseitigung des „Minderwertigen“ abzielte. Man kann die Gewalt gegenüber Unschuldigen weder rechtfertigen, noch relativieren, auch nicht wenn die Länder letztlich von Nebenprodukten wie dem Einzug von Fortschritt und Ansätzen der Urbanisierung profitierten und teilweise der späteren Ausbildung afrikanischer Nationalstaaten Vorschub geleistet wurde.

Titelbild: Von Bundesarchiv, Bild 146-2007-0013 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5420066

2 thoughts on “Zwischen Brutalität und Fortschritt — Ein Blick auf die deutsche Kolonie Ostafrika”

  1. Vielen, herzlichen Dank für einen sachlichen und neutralen Artikel wie diesen. Seit den letzten Jahren wird man durch sehr polarisierende und teils deutschen- oder gar weißenfeindliche Aussagen gezwungen, sich gründlich und ergebnisoffen mit der Historie auseinanderzusetzen. Dass es sowohl helle als auch dunkle Flecken in der Historie gibt, ist unumstritten. Jeder sollte sich seine eigene Biografie ansehen und fragen, ob er immer [nach heutigen Standards] eine weiße Weste hatte und die Umstände ins zeitliche Verhältnis setzen.

    Es wurde ausgewogen auf beide Parteien – die Kolonalisten und Kolonalisierten – eingegangen. Wir brauchen mehr von solchen Schreiberlingen und ich hoffe innigst, dass Vorhaben wie diese wieder Freude am gemeinschaftlichen Leben bringen werden und die Deutschen wieder anfangen alle Seiten sachlich und rational zu betrachten und die Emotionen außen vor zu lassen.

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