Ein Kommentar von David Kessler
Warum (unter anderem) Kriege geführt werden
Kriege haben immer eine bestimmte Funktion. Sie dienen dazu den Kontrahenten auszuschalten, Territorien zu erobern oder Gebiete zu befreien. Kriege haben aber auch einen bestimmten Effekt: In Zeiten eines militärischen Konflikts steigen in der Regel auch die Zustimmungswerte der politischen Entscheidungsträger. Prominentestes Beispiel: Nach dem Terroranschlag gegen die USA im Jahr 2001 schnellten die Zustimmungswerte für Präsident Bush in die Höhe, für eine zweite Amtszeit hat es ebenfalls gereicht. In der Politikwissenschaft ist dann von einem „rally-around-the-flag-effect“ zu sprechen, oder in diesem Fall: Rally-around–the-kremlin.
Dieser Effekt kann aber auch künstlich herbeigerufen werden, auch dafür gibt es (insbesondere in der jüngeren russischen Geschichte) empirische Nachweise: Nach Putins knapper Bestätigung zum Ministerpräsidenten im Jahr 1999 konnte er nicht mit einer breiten Unterstützung in der Bevölkerung rechnen. Dies änderte sich schlagartig nach einer Serie von Anschlägen auf Moskauer Wohnhäuser, für die tschetschenische Terroristen verantwortlich gemacht wurden. Eine Aufklärung der Anschläge erfolgte jedoch nie, es gab auch keine Verantwortlichen. Als Reaktion auf die Anschläge verlegte Putin große Teile der russischen Streitkräfte an die tschetschenische Grenzen, als befehlshabender Politiker erntete er für die Demonstration von Stärke hohe Zustimmungswerte in der Bevölkerung.
Ähnlich im Jahr 2014, als Putin die ukrainische Halbinsel Krim völkerrechtswidrig annektierte. Seine Umfragewerte waren zu dem Zeitpunkt auf einem Tiefstand, insbesondere die wirtschaftliche Situation des Querschnittsbürgers war unbefriedigend. Dank der Annexion konnte Putin eine Welle des Nationalgefühls lostreten. Die innenpolitischen Probleme waren zumindest zeitweise vergessen und das russische Volk in seiner Haltung -wir gegen den Westen- vereint. Die innenpolitischen Probleme wurden jedoch nicht behoben, im Gegenteil: Die Sanktionen des Westens verschärften sie noch zusätzlich.
Die Unterstützung für Putin bleibt aus
Trotz der empirischen Befunde sammelt sich die Bevölkerung heute nicht rund um Putin, die breite Unterstützung bleibt aus. Das hat mehrere Gründe: Zum einem verschärften sich die Probleme von damals: normale russische Familien kommen mit ihrem Einkommen nicht mehr aus. Sowohl der Mann als auch die Frau und die erwachsenen Kinder gehen arbeiten und kommen gerade so über die Runden, wenn überhaupt. Darüber kann auch ein künstlich entfachter Nationalstolz nicht mehr hinwegtrösten. Zum anderen sind die jüngsten Sanktionen des Westens wesentlich rigoroser: Es wird die Bevölkerung im Schnitt treffen, ja. Aber dieses mal auch die Oligarchie. Alle Unternehmer und Diplomaten, welche zuvor noch Privilegien wie vereinfachte Einreise in die EU genossen, sind nun ebenfalls betroffen. Putin bekommt also auch von denjenigen Druck, die bisher treu beziehngsweise schweigend zu ihm standen. Das prominenteste Beispiel ist hier die Tochter des russischen Regierungssprechers, welche sich öffentlich auf Instagram gegen den Ukraine-Krieg aussprach.
Schlussendlich ist zu beobachten, dass russische Streitkräfte in der Ukraine beinahe schon gedemütigt werden. Keiner hat mit so einer Resistenz der ukrainischen Soldaten gerechnet und Selenzky, der ukrainische Präsident, wird bereits jetzt als ein Held gefeiert, weil er die einfache Soldatenuniform annahm. Viele Russen fragen sich nun: Würde auch Putin eine Soldatenuniform anziehen und für sein Volk kämpfen? Die Antwort auf die Frage dürfte für viele russische Patrioten unbefriedigend ausfallen.
Darum ist die Situation so gefährlich für uns alle
Wir halten fest: Putin hat die gesamte Russische Föderation binnen fünft Tagen vom Rest der Welt abgetrennt. In seiner eigenen Bevölkerung hat er keine Mehrheit und sein bisher treues Umfeld, die Oligarchie, hegt auch Zweifel an seiner Person. Ein baldiger Frieden steht wohl nicht zur Disposition, dafür sind die Sanktionen zu scharf und der erbrachte Nutzen Russlands am Krieg nonexistent. Putin hat, Stand jetzt, keine Option wie er sich gesichtswahrend aus dieser Situation herausmanövrieren könnte. Getreu dem Motto „Ein verletztes Tier ist besonders aggressiv“ kann die Weltbevölkerung über die nächste Eskalation nur mutmaßen. Eins ist aber jetzt schon klar: Dieser Krieg kennt keine Gewinner, der größte Verlierer wird aber Russland und das russische Volk sein.